Nicht nur in der Kunst, im Film oder im Fantasy-Genre finden sich heute Geschichten und Gestalten aus der griechischen Sagenwelt. Auch einige Sprachbilder, Firmenmarken oder Namen in Medizin oder Biologie gehen darauf zurück. Wer sich auf Spurensuche begibt, findet Überraschendes und Bekanntes.
Mit Artemis zum Mond
Kennen Sie Artemis? Die Mondmission Artemis 2 soll 2025 vier Menschen auf eine Mondumrundung schicken.1) Mit den Artemis-Missionen belebt die US-Weltraumbehörde NASA die bemannte Mondfahrt neu und knüpft damit an das Apollo-Programm an, das 1969 die ersten Menschen auf den Mond brachte und 1972 mit Apollo 17 endete. Artemis könnte man als ‚Schwesterprogramm‘ bezeichnen, auch wenn die Ziele inzwischen weit über den Mond hinaus bis zum Mars reichen.2)
Apoll und Artemis sind Zwillinge aus der griechischen Mythologie. Sie, die Göttin des Mondes und der Jagd, und ihr Bruder, der Gott des Lichts und der Weissagung, gehörten zum Kreis der zwölf wichtigsten Gottheiten. Die Benennung dieser Raumfahrt-Missionen ist nur ein Beispiel für Spuren und Rückbezüge auf die griechische Sagenwelt in unserer Zeit.
Die Unsterblichen
Die ‚Unsterblichen‘ – so wurden die griechischen Gottheiten auch genannt – und es gab viele von Ihnen. Sie teilten die Aufgaben in der Welt unter sich auf: Weisheit, Familie, Gerechtigkeit oder Tod sind nur einige davon. Aber die Menschen hörten auf, an die Vielzahl der Götter zu glauben. Und doch haben sich die sagenhaften Gestalten und Geschichten in das kulturelle Gedächtnis eingegraben. In Kunst, Literatur und Film werden sie immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Seit Jahren durchstreifen Götter und Halbgötter, Zentauren oder Hydras zahlreiche Jugendbücher und Spiele. Das Fantasy-Genre schöpft aus dem mythologischen Schatz. Er hat außerdem unsere Sprache bereichert und dient als Inspiration für die Namensgebung von Produkten, Firmen und Programmen, von Krankheiten, Tierarten oder Himmelskörpern, um nur einige zu nennen. Manchmal ist das Wissen um den mythologischen Ursprung längst verblasst.
Sprachliche Bilder
Sprachliche Bilder erwecken Bilderwelten und Emotionen im Kopf. Einige Sprachbilder gehen zurück auf die griechischen Sagen wie zum Beispiel:
„Die Büchse der Pandora öffnen“
Wenn die Büchse der Pandora geöffnet wird, verbreitet sich Unheil über die Menschen. Denn sie ist gefüllt mit sämtlichen Übeln wie Krankheiten, Mühen, Leid und Laster – und als einzigem Lichtblick – der Hoffnung. Götterkönig Zeus war zornig, dass Gott Prometheus das Feuer vom Olymp gestohlen und den Menschen gebracht hatte. Er bestrafte nicht nur Prometheus fürchterlich, sondern auch die Menschen mit einem üblen Geschenk: So beauftragte er seinen Sohn Hephaistos, eine Frau – die schöne Pandora – zu erschaffen. Damit ihr niemand widerstehen konnte, wurde sie von den Göttern mit vielerlei Begabungen ausgestattet (Pandora = die Allbegabte) und obendrein mit jener Büchse. Dieses unheilvolle Geschenk sollte sie den Menschen übergeben mit der Warnung, die Büchse dürfe keinesfalls geöffnet werden! Aber wie es so ist mit Verboten, können sie doch verlockend sein und Pandora öffnete die Büchse aus Neugier selbst. Die Übel entwichen in die Welt. Was zurückblieb, war die Hoffnung. (Inwiefern auch die Hoffnung womöglich ein Übel ist oder nicht – darüber haben sich schon Philosophen den Kopf zerbrochen.)
Heute besagt diese Redewendung: Es wird etwas Unheilvolles freigesetzt, das dann nicht mehr zu kontrollieren ist und Schaden anrichten kann. Dabei geht es meist nicht um Kleinigkeiten, sondern betrifft große und umstrittene Entwicklungen. In letzten Jahr (2023) hörte oder las man den Begriff häufiger im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz (KI). So warnten gerade die Schöpfer von KI-Systemen vor den Gefahren und unabsehbaren Folgen einer unregulierten Verbreitung für die Menschen.3)
„Odyssee erleben“
Die Odyssee ist zum Inbegriff von Irrfahrten verschiedenster Art geworden: Das Ziel wird zwar erreicht, aber auf Umwegen. So kann etwa die Antragstellung bei Behörden zur Odyssee werden ebenso wie eine Urlaubsreise voller Hindernisse, Bahnausfälle und Umleitungen oder auch die innere Suche eines Menschen nach dem richtigen Weg.
Ursprung dieser Metapher ist Homers Epos ‚Odyssee‘ um den listenreichen Odysseus, König der Insel Ithaka. Er hatte im Krieg um Troja mit seinem Schachzug des Trojanischen Pferdes den Griechen den Sieg gebracht. Allerdings geriet Odysseus‘ Heimfahrt zu seiner Frau Penelope aufgrund zahlreicher Hindernisse, Rückschläge und Ablenkungen zur zehnjährigen Irrfahrt.
„Im Olymp“
Ob im Olymp der Wissenschaften, der Klassik, der Popmusik, des Sports … wer es schafft, die Erfolgsleiter bis ganz oben zu erklimmen und in den Olymp aufzusteigen, hat es geschafft. Ein Nobelpreis, eine Goldmedaille, ein Oscar oder Auftritte in den renommiertesten Konzerthäusern der Welt krönen die Karriere und bezeugen, dass jemand zu den Besten oder Erfolgreichsten gehört.
In der griechischen Sagenwelt war der Olymp als höchster Berg Griechenlands der Sitz der wichtigsten Götter. Hier standen ihre Paläste und Throne, sie hielten sich mit Nektar und Ambrosia unsterblich und mischten in der Welt mit. Einzelne Auserwählte wie der Halbgott Herakles oder die sterbliche Königstochter Psyche stiegen in den Olymp auf und erlangten Unsterblichkeit.
Muse küsst Marketing – Firmennamen und Marken
Die schöne Pandora (s.o.) in Verbindung mit Schmuck oder Apoll als Gott des Lichts mit Brillen – auch das Marketing schöpft aus dem mythologischen Füllhorn, um Namen und mit ihnen verbundene Attribute auf Unternehmen und Produkte zu übertragen. Dieser Bedeutungstransfer auf Marken gelingt, wenn der Ursprung nicht in Vergessenheit gerät.
Nike
Der weltweit größte Sportartikelhersteller aus den USA trägt den Namen der griechischen Göttin Nike und verknüpft damit Sport mit Sieg und Erfolg. Denn Nike war die göttliche Personifizierung des Sieges sowohl bei sportlichen Wettkämpfen als auch in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die geflügelte Göttin half Zeus und den olympischen Göttern im Kampf gegen die Titanen. Zum Dank wurde sie vom Götterkönig Zeus zur Siegesgöttin erklärt.4)
Thalia
Eine Buchhandelskette und mehrere Theater tragen ihren Namen. Thalia war in der griechischen Sagenwelt eine der neun Musen, allesamt Töchter von Zeus mit der Göttin Mnemosyne. Die neun Schwestern waren die Schutzgöttinnen der Künste mit verteilten Aufgabenbereichen: Dazu gehörten Philosophie und Wissenschaft (Muse Kalliope), Lyrik (Muse Euterpe), Liebesdichtung (Muse Erato) oder Tragödie (Muse Melpomene). Thalia kümmerte sich um die komische Dichtung und galt als Beschützerin der Theater.5)
Auf die Musen geht auch unser Wort Museum zurück.
Hermes
Der Logistikdienstleister Hermes überbringt Pakete in aller Welt. In der griechischen Mythologie war es dem Götterboten Hermes mit seinen Flügelschuhen ein Leichtes, Botschaften im Flug zu überbringen. Er war außerdem Gott der Händler, Hirten, Reisenden und Diebe und erwies sich manchmal als Schelm.
Gesundheit
Auch in der Medizin und Psychologie führen so manche Spuren zurück in das antike Griechenland und seine Sagenwelt. Die dazugehörigen Geschichten tragen zur Veranschaulichung bei. Zum Beispiel:
Achillessehne:
So mancher hat sie schon schmerzlich zu spüren bekommen. Diese von der Ferse in die Wade verlaufende Sehne spielt eine wichtige Rolle für das Laufen und Springen. Der Name geht auf den sagenhaften Achill zurück, einer der prägenden Gestalten im trojanischen Krieg. Er war ein Halbgott, sein Vater ein Mensch und seine Mutter die Meeresgöttin Thetis. Weil er sterblich war, wollte Thetis ihren kleinen Sohn unverwundbar machen und badete ihn im Unterweltfluss Styx. Dabei hielt sie ihn an der Ferse fest, wodurch diese – ähnlich wie Siegfrieds Schulter in der Nibelungen-Sage – von dem magischen Wasser unberührt und damit verletzlich blieb. Genau an der Ferse wurde Achill im trojanischen Krieg von einem Pfeil getroffen und getötet.
Atlas:
Er ist der oberste Halswirbel und trägt das Gewicht des Kopfes. Seinen Namen verdankt er dem Titanen Atlas. Die Titanen waren riesenhafte Göttergestalten, die in der Ära vor Zeus und den olympischen Göttern herrschten und sich mit ihnen heftige Kämpfe um die Macht lieferten. Zeus und die Olympier gingen als Sieger hervor. Atlas wurde bestraft und musste seitdem den Himmel im Westen auf seinen Schultern tragen.
Phobie:
Angst vor Höhe, vor Spinnen oder vor Menschenmengen – die Phobie hat viele Gesichter. In der griechischen Mythologie verkörperte Phobos die Furcht und trat meist mit seinem Bruder Deimos, dem Schrecken, im Doppelpack auf. Sie wirkten im Verbund mit Eris, der Göttin der Zwietracht. In Homers Ilias entfachte Eris Streit, woraufhin Phobos und Deimos Angst und Schrecken unter den Kriegern vor Troja verbreiteten. Beide gehörten zum Gefolge des Kriegsgottes Ares.6)
Götterdarstellungen aus der Antike
Quellen, Literatur und Informationen
1) Tagesschau: NASA verschiebt Mondmission, 09.01.2024, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/nasa-mondmission-verschiebung-100.html (10.01.2024)
2) Weiterführende Informationen zum Artemis-Programm:
Fred Schwaller: 16.11.2022. „Artemis I“ soll Weg für Mondsiedlung ebnen. Deutsche Welle. https://www.dw.com/de/artemis-i-soll-weg-f%C3%BCr-%C3%BCnftige-mondsiedlung-ebnen/a-62940797 (20.07.2023)
Stefan Schmitt/ Robert Gast: 16.11.2022. Die Rückkehr zum Mond läuft. Zeit Online. https://www.zeit.de/wissen/2022-11/artemis-mondmission-nasa-faq?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.startpage.com%2F (20.07.2023)
3) vgl. Richard Gutjahr: Experten zeichnen drei Szenarien für eine KI-Apokalypse. Rheinische Post, 03.06.2023, S. 2. (Zitat aus dem Subtitel: „Doch wie reguliert man eine Büchse der Pandora?“)
4) vgl. Philip Wilkinson/ Neil Philip: Mythologie, Dorling Kindersley Ltd. London 2007, S. 333
5) vgl. Philip Wilkinson: Mythen & Sagen aus allen Kulturkreisen, Dorling Kindersley Ltd. London, 2009, S. 25
6) vgl. Isabel Grimm-Stadelmann: Angst in der antiken Mythologie, erschienen in Angst und Gesellschaft, 2021, Medizinische wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S. 9