Wer kennt das nicht? Eine spannende oder lustige Geschichte bleibt viel leichter im Gedächtnis als abstrakte Sachtexte, Vokabellisten oder Zahlenreihen. Geschichten wecken Emotionen und liefern den Kontext, der Einzelheiten erst bedeutsam macht.
Geschichten vermitteln Bedeutung
Neurobiologen betonen, wie wichtig Emotionen für das Lernen sind. Denn Kinder lernen vor allem das, was ihnen etwas bedeutet und wofür sie sich begeistern.1 Geschichten können eine Möglichkeit sein, Begeisterung zu wecken. Sie handeln von Menschen (oder Tieren, Fantasiewesen), die wünschen, fühlen, fürchten, Konflikte erleben und eine Entwicklung durchlaufen. Kinder können sich in die Figuren hineinversetzen und deren Erlebnisse miterleben. Gute Geschichten vermitteln das Gefühl, eine ganzheitliche Erfahrung zu durchleben und am Ende etwas gelernt zu haben, über das Leben oder über sich selbst.2 Sie vermitteln Sinn und Bedeutung. Es ist ein Lernen am Beispiel durch Fantasie, Identifikation und emotionale Beteiligung. „Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen“3, so der Hirnforscher Manfred Spitzer in dem Buch „Lernen“.
Fantasie, Gefühle, Bedeutung (und Sprache): All das steckt in besonderer Weise in Märchen. Obwohl einige schon Jahrhunderte alt sind, bangen Kinder auch heute noch mit Schneewittchen, freuen sich über die List des gestiefelten Katers und atmen auf, wenn am Ende alles gut ausgeht. Was macht Märchen für Kinder und auch für Erwachsene faszinierend?
Märchen liefern fantastische Bildwelten
Einhörner, Feen oder Zauberer beflügeln die Fantasie. Das in der Realität Unmögliche sorgt in Märchen für überraschende Wendungen. Ob sprechende Spiegel oder verwandelte Prinzen, die meisten Kinder und auch viele Jugendliche und Erwachsene lieben Märchenhaftes und Fantastisches. Bei jüngeren Kindern kommt es ihrem Verständnis der Wirklichkeit entgegen. Kinder durchlaufen selbst eine magisch-fantastische Entwicklungsphase, die laut Familienberater Jan-Uwe Rogge etwa vom dritten Lebensjahr bis weit in die Grundschulzeit reicht. Hier ergänze das Kind seine eigenen Erfahrungen und sein unvollständiges Wissen mit Fantasie. Das Kind, so Rogge, denke in Bildern und diese imaginären Bilder, ob Monster, Wölfe oder Feen, können genauso wahrhaftig sein wie die Wirklichkeit. In dieser Phase spielen Märchen eine wichtige Rolle4.
Aber auch später hat das Fantastische durch seine Bildhaftigkeit und Originalität einen hohen Unterhaltungswert, wie die Popularität der Fantasy in Literatur, Film, Spielen und Spielzeug lebhaft zeigt.
Märchenheldinnen und -helden
Sie sind schöne Prinzessinnen oder mutige Prinzen, aber auch Menschen aus dem Volk wie Müller, Fischer und Kinder. Sie können auch Tiere sein wie der gestiefelte Kater, die ähnlich wie Menschen handeln, oder Menschen, die von Widersachern in Tiere verwandelt wurden. Diese Hauptfiguren berühren Kinder auch deshalb, weil im Märchen oft die Schwachen und Benachteiligten ihr Glück machen: der jüngste Sohn wird König, die gedemütigte Stieftochter heiratet den Prinzen (Aschenputtel), das arme Waisenkind kommt zu Reichtum (Sterntaler). Wer fühlt sich in seiner Umgebung nicht auch schon einmal schwach? Die Hauptpersonen der Volksmärchen sind zumeist typisiert und ohne Namen wie der „Schneider“ oder die „Prinzessin“. Jeder von uns könnte sich darin sehen. Vielleicht lässt gerade das Raum für die eigene Fantasie und Kinder können gedanklich leicht in die Rolle der Prinzessin oder des Königssohns schlüpfen. Manche Figuren liefern mit „sprechenden Namen“ gleich eine Bedeutung mit wie Schneeweißchen (unschuldiges Mädchen) oder Dummling (der jüngste Sohn, dem der Vater nichts zutraut, der aber in „Die goldene Gans“ die Prinzessin heiratet).
Die meisten Märchen waren von ihrem Ursprung her Geschichten für Erwachsene. Aber sie bieten Kindern auch deshalb Identifikationspotenzial, weil viele der Hauptfiguren an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen und Entwicklungsaufgaben zu meistern haben, denken wir nur an Rapunzel oder Aschenputtel.
Die Heldenreise im Märchen
Die sogenannte „Heldenreise“, die der Mythenforscher Joseph Campbell oder Christopher Vogler als Grundmuster von Mythen, erfolgreichen Geschichten und Filmen beschreiben5, lässt sich auch in vielen Märchen erkennen: Ein Ereignis löst die Geschichte und den zentralen Konflikt aus und verändert das Leben der Hauptfigur. Das kann der Tod der Eltern sein (Aschenputtels Mutter stirbt), Vertreibung (Hänsel und Gretel werden im Wald ausgesetzt) oder eine besondere Begegnung (ein Bär klopft an die Tür von Schneeweißchens Haus). Die Hauptfigur muss nun Herausforderungen oder Gefahren überwinden und sich gegen einen mächtigen, bösen Gegenspieler behaupten. Dabei kann es um Leben und Tod gehen. Doch sie findet auch Helfer, zum Beispiel in Zwergen, Tieren oder Zauberdingen. Es kommt zu Wende- und Höhepunkten. Am Ende hat sie die Aufgabe bewältigt. Und auch der Leser oder Zuhörer hat etwas gelernt. Dieses erzählerische Grundmuster macht Geschichten „rund“ und zu einer zufriedenstellenden Erfahrung.
Konflikte und Gefühlsleben im Märchen
Märchen spielen in einer nicht näher bestimmten vergangenen Zeit, ihre Konflikte und Gefühle rund um Liebe und Hass, Angst und Demütigung, Eitelkeit und Hochmut sind immer gültig. In den übersichtlichen Geschichten können Kinder diese stark ausgelebten Gefühle leicht erkennen, benennen und nachvollziehen. Die Polarisierung von Gut und Böse macht es kleineren Kindern darüber hinaus leicht, zwischen „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden. Dass in unserer komplexen Wirklichkeit nicht alles so einfach ist, muss das Kind mit der Zeit lernen. Das Märchen aber erzeugt seine eigene, einfachere Wirklichkeit.
Nach Auffassung einiger Psychoanalytiker wie Bruno Bettelheim können Märchen Kindern dabei helfen, ihre eigenen Gefühle zu verarbeiten. Sie entsprechen dem Denken und Fühlen der Kinder. Märchen „vermitteln wichtige Botschaften auf bewusster, vorbewusster und unbewusster Ebene entsprechend ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe“, schrieb Bruno Bettelheim in „Kinder brauchen Märchen“6. Viele Märchen thematisieren Armut, Ängste, Tod, Leben mit nur einem Elternteil oder als Waise. Aber was immer in der Geschichte zu durchleben ist, meistens führt es zu einem glücklichen Ende. Das Happy End macht Mut und vermittelt Zuversicht, denn die Hauptigur findet ihr Glück, die Peiniger und Bösewichte werden bestraft und eine gefühlte Gerechtigkeit wird hergestellt: Aschenputtel bekommt trotz aller Erniedrigung den Traumprinzen, die Schwestern werden bei den Brüdern Grimm bestraft. In der Version von Charles Perrault verzeiht Aschenputtel den Schwestern! In „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ überlebt der junge Held alle Mordversuche des Königs und folgt ihm auf den Thron, während der alte König für den Rest seines Lebens eine Fähre rudern muss. Das hässliche Entlein, verlacht und ausgestoßen, wandelt sich zum schönen Schwan und findet Anschluss und Bestätigung.
Symbole in Märchen
Bevor die Volksmärchen in Büchern festgeschrieben wurden, haben Menschen sie mündlich überliefert – über Jahrhunderte hinweg und in verschiedenen Versionen. Sie müssen also bedeutsam und sinnstiftend gewesen sein – warum hätte man sie sonst erzählen sollen? Märchen und Mythen dienten auch dazu, „Weisheiten ganzer Generationen verschlüsselt in Bildern und Symbolen weiterzutragen“7. Laut dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sind sie als Träume einer ganzen Kultur zu verstehen und können wie Träume gedeutet werden8. So kann Verschiedenes im Märchen als Symbol aufgefasst werden, z. B. Orte (der tiefe See als das Unbewusste) oder Gegenstände (z. B. goldene Kutsche als goldener Käfig)9.
Sprache, Formeln und Reime im Märchen
Auch die Volksmärchen sind (wie die Kunstmärchen) Literatur geworden, seitdem Märchensammler wie die Brüder Grimm oder Charles Perrault sie aufgeschrieben haben. In den Grimm’schen Märchen schreitet die Handlung gradlinig und zügig voran. Die Sprache ist durch Lautmalereien und Vergleiche bildhaft und lebendig. Beim Zuhörer und Leser entsteht sogleich eine Vorstellung im Kopf. Hier ein paar Beispiele:
„Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Rädchen, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll.“ (Rumpelstilzchen)
„Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte.“ (Schneewittchen)
„Und sein Herz wackelte ihm vor Freude wie ein Lämmerschwänzchen.“ (Das tapfere Schneiderlein)
Der Teufel legte der Großmutter „seinen Kopf in den Schoß und sagte, sie sollte ihn ein wenig lausen. Es dauerte nicht lange, so schlummerte er ein, blies und schnarchte.“ (Der Teufel mit den drei goldenen Haaren)
Zauberformeln und Sprüche entfalten durch Wiederholungen, Rhythmik und Reime eine magische Atmosphäre und prägen sich ein. Nicht umsonst sind manche so bekannt, dass sie in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind.
Königin: „Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Spiegel: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier. Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“
Aschenputtel: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich!“
Hexe: „Knusper, Knusper Knäuschen – wer knuspert an meinem Häuschen?“ Hänsel und Gretel: „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“.
Rumpelstilzchen: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“
Formeln am Anfang und Ende öffnen und schließen das Tor zur Zauberwelt. Sie können auch als Beschwörungsformeln fungieren, mit denen Kinder ihre Ängste bannen10.
Märchen als Kulturschatz
Märchen gibt es überall in der Welt. C. G. Jung bezeichnete sie als Träume einer ganzen Kultur. In Träumen und Geschichten verarbeiten Menschen ihr Leben, ihre Wünsche und Ängste und vermitteln Sinn und Bedeutung.
Sämtliche Kinder in der westlichen Welt sind über Jahrzehnte mit Märchen der Brüder Grimm, Perrault, Hauff, Anderson, 1001 Nacht aufgewachsen. Die Grimm‘sche Märchensammlung gilt laut UNESCO neben der Lutherbibel als das „bekannteste und weltweit am meisten verbreitete Werk der deutschen Sprache.“11
Wie lebendig und inspirierend Märchen mit ihren Figuren und Themen bis heute sind, zeigt sich auch an den immer neuen Adaptionen, insbesondere auch im Film, mit anderen Sichtweisen und Interpretationen.
Autorin: Natascha Wickerath
(Zuletzt aktualisiert: Dezember 2023
(Erstmals veröffentlicht: Mai 2017)
Literaturangaben:
1) Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten, Fischer, 2011, S. 92 ff.
2) Christopher Vogler: The Writer’s Journey, Michael Wiese Productions, 2007, Introduction: Preparing for the Journey S. XXVII ff.
3) Manfred Spitzer: Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum,
S. 35, S. 160
4) Jan-Uwe Rogge: Fantasie, Emotion und Kognition in der „Sesamstraße“, erschienen in Televizion, Ausgabe 15/2002/1 Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/15_2002_1/rogge15_1.htm (27.04.2017)
5) Christopher Vogler, ebd. S.3 ff.
6) Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, DTV, 1980, 27. Auflage 2006, S. 11 ff.
7) Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Insel, 2011, 274
8) Christopher Vogler, ebd. S. 23
9) Clarissa Pinkola Estes: Die Wolfsfrau, München 1993, S. 113, S. 272
10) Jan-Uwe Rogge: ebd.
11) https://www.unesco.de/kultur-und-natur/weltdokumentenerbe/weltdokumentenerbe-deutschland/unesco-weltdokumentenerbe-die-2 (03.2019)