Lehren und Lernen mithilfe von Geschichten, das haben Tierfabeln immer bezweckt. Erzähler von Fabeln wollen eine Botschaft, (Lebens)Weisheit, Wahrheit, Erkenntnis oder Kritik am Beispiel einer Geschichte auf unterhaltsame Weise zeigen.
Fabeln als Lehrstücke
Dabei ist die Fabel nicht so ganz wörtlich zu nehmen, sie ist kein Lehrstück über das Verhalten von Tieren. Denn in freier Wildbahn wird eine Maus nicht mit einem Löwen diskutieren und das Netz aufnagen, um ihn zu befreien. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass ein Fuchs einem Storch eine leckere Suppe kocht.
Vielmehr geht es um den Menschen. Die Tiere in Fabeln denken, sprechen und handeln wie Menschen. Die Geschichte soll uns den Spiegel vorhalten und in unseren Köpfen etwas verändern. Dafür müssen wir sie auf die Menschenwelt übertragen. Damit die beabsichtigte Botschaft auch deutlich wird, ist die Fabel meist kurz und einfach gehalten und kommt mit wenigen typisierten Figuren (ein Fuchs, ein Wolf) aus. Die Lehre ist entweder selbst zu ziehen oder sie wird noch ausformuliert mitgeliefert. Lessing nannte sie den „moralischen Lehrsatz“1 – oder mit Wilhelm Busch gesprochen: die „Moral von der Geschicht“.
Die Themen und Lehren der Fabel drehen sich um menschliche Schwächen, Stärken und Verhaltensweisen (wie Dummheit, Gier, Selbstüberschätzung, Eitelkeit oder auch Klugheit und List), um Recht und Unrecht, um Kritik an der Gesellschaft oder den Machtstrukturen. Im Grunde kann die Fabel alles spiegeln, was Menschen bewegt, sofern ihre Lehre oder Wahrheit allgemeingültig ist.2 Um sie zu verstehen, muss man sie manchmal im Kontext ihrer Zeit sehen.
Aus Schaden wird man klug
Besonders unterhaltsam sind Fabeln, wenn sie uns – wie es im Lehrbuch steht – am Ende mit einer originellen Pointe überraschen. So erweist sich zum Beispiel der Storch, der vom Fuchs mit einer Essenseinladung reingelegt wird (er kann von der Suppe in flachen Tellern nichts fressen), mit seiner Gegeneinladung (Speisen in schmalen, hohen Gefäßen) als unerwartet ebenbürtig.
Viele klassische Fabeln arbeiten mit Gegensätzen, die in Konflikt geraten: klug – dumm, faul – fleißig, klein – groß und so fort. Einer gewinnt, der andere zieht meist den Kürzeren. Wenn er Glück hat, kommt er mit einem blauen Auge davon. Schläue und List zahlen sich aus, wie uns der Fuchs immer wieder zeigt. Manchmal gewinnt der kleine Schwache, wenn er klug und beherzt genug ist. So ist es die Maus, die den Löwen rettet, oder das Chamäleon, das den eingebildeten Elefanten beim Wettlauf überlistet.
Wie die Märchen gehören Fabeln zu den sehr alten Literaturgattungen. Doch während im Märchen am Ende meist alles gut wird und das Vertrauen des Lesers in die Welt wiederhergestellt ist, kann es in der Fabel auch ein schlimmes Ende nehmen. „Die Fabel richtet sich an unsere Vernunft, sie will überzeugen“3. Daher führt sie uns Verfehlungen oder kritikwürdige Zustände mitunter in aller Konsequenz vor: Der aufgeblasene Frosch, der groß wie ein Ochse werden will, platzt. Die einfältige Schildkröte, die unbedingt fliegen möchte, zerschellt. Das Lamm wird vom Wolf zerrissen, obwohl es im Recht ist und sich demütig zeigt. Auch das Schlechte, Falsche, Ungerechte kann siegen – wie im wirklichen Leben. Die Fabel kann und soll auch weh tun! Sieh her, so kann es dir ergehen, wenn … Das Lachen bleibt einem schon mal im Halse stecken. Aus dem Schaden anderer werden wir (hoffentlich) klug.
Tiere als handelnde Figuren und ihre Eigenschaften
„Alle Welt hasset die Wahrheit, wenn sie einen trifft“, schrieb schon Luther.4 Damit sich die Zuhörer nicht allzu angegriffen fühlen, nimmt der Fabeldichter den Umweg über Tiere. Anthromorph nennt man es, wenn Tiere wie Menschen handeln, wobei auch in Fabeln gewisse Regeln der Natur gelten: der Wolf frisst das Lamm und nicht umgekehrt, die Maus nagt am Netz und nicht der Löwe.
Da Menschen schon immer mit Faszination Tiere beobachtet haben, sind ihnen bestimmte Charakteristika aufgefallen, die sich als Eigenschaften auf Menschen übertragen lassen. So galt der Löwe (Gefährlichkeit, majestätische Mähne, Schreiten, faules Herumliegen) als Sinnbild für Stärke und Macht, als König der Tiere und diente als Herrschaftssymbol auf Wappen und Thronen. Jäger berichten über den schlauen Fuchs, der andere Tiere austrickst oder sich totstellt, um an Beute zu kommen. Die Ameise und der Biber scheinen unermüdlich zu schuften und schaffen eindrucksvolle Bauwerke, gelten also als fleißig. Kleine Tiere wie die Maus können nicht auf Stärke bauen, sie müssen durch Klugheit oder Geschick zum Erfolg kommen. Schon in der Antike galt die Eule mit ihren großen Augen, die auch im Dunkeln sehen können, als weise. Sie war das Tier der Athene, der Göttin der Weisheit.5
So gibt es in allen Kulturkreisen Tiere, die zum Symbol für gewisse menschliche Eigenschaften geworden sind. Fabeldichter wissen, dass wir diese Bedeutung gelernt haben und setzen diese Tiere als Personifikation von Eigenschaften ein oder kehren es auch schon mal ins Gegenteil. In den Fabeln von James Thurber gibt es z. B. auch einen sehr faulen Biber und einen Uhu, von dem die anderen denken, er sei weise.
Von früher bis heute – Streifzug durch die Geschichte der Fabel
Fabeln sind überall auf der Welt entstanden und wurden in vielen Völkern lange mündlich erzählt. Die älteste in Keilschrift aufgefundene „Fabel vom klugen Wolf und den neun dummen Wölfen“ stammt aus Mesopotamien aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. In Indien entstand ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. die bedeutende Sammlung „Panchatantra“, die auch Fabeln enthielt und in eine Rahmenhandlung einbettete wie zum Beispiel „Der blaue Schakal“. Sie dienten dazu, den Prinzen „Staatsweisheit und Lebenskunst“6 beizubringen. Diese Geschichten breiteten sich nach Persien aus. Im arabischen Sprachraum entstanden in der Folge bedeutende Fabelsammlungen.
Die europäische Fabeltradition hat ihre Wurzeln in der Antike und hier insbesondere bei dem „sagenhaften“ Äsop, der als Sklave im 6. Jahrhundert vor Christus in Griechenland gelebt haben soll. Schriften sind von ihm nicht überliefert und ob er wirklich gelebt hat, weiß man nicht so genau. Seine Geschichten, die in Griechenland wohl als Rhetorikübungen genutzt wurden, wurden später von Phaedrus, Babrios und Avianus in lateinischer Sprache aufgeschrieben und erweitert. Sie prägten die gesamte Literaturgattung.7 Unter dem Namen Äsop ist ein Fundus an Fabelklassikern entstanden, der in Europa kursierte und über Jahrhunderte hinweg bis heute immer wieder von anderen Autoren aufgegriffen, adaptiert, neugedichtet, parodiert oder weiterverarbeitet wurde. So schrieb z. B. Martin Luther eine Version der Äsop’schen Geschichte von der verwöhnten Stadtmaus und der Landmaus, und auch James Thurber lässt in seiner etwas absurden Fabel die Stadtmaus zu ihrer Freundin Landmaus fahren. Oder die Grille und die Ameise wurde neu gedichtet von Jean de La Fontaine und ebenso aufgegriffen von Hans Sachs.
Einige dieser Fabeln sind in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Auch so manche Redensart, die wir heute noch verwenden, lassen sich darauf zurückführen wie z. B. „In der Höhle des Löwen“.
Ab dem späten Mittelalter wurden die antiken Fabeln, bis dahin vor allem in Lateinschulen verwendet, durch Übersetzungen in die Volkssprache und später auch beflügelt durch den Buchdruck einer größeren Öffentlichkeit bekannt, zum Beispiel die Sammlung „Esopus“ von Steinhöwel. Neben dieser äsop‘schen Fabeltradition entwickelten sich auch eigenständige Tierdichtungen.8
Eng verwoben mit der Fabeldichtung sind die epischen Formen und Vorläufer von Reineke Fuchs, die seit dem 12. Jh. in Europa entstanden. Hier trugen die Tiere auch erstmals die sprechenden Namen wie Reineke oder Isegrim. Die letzte Bearbeitung stammte von Goethe 1794 und fußte auf einer langen Tradition von antiken und mittelalterlichen Fabeln und Epen vom Fuchs, der mit Lügen und Intrigen alle überlistet und am Hof des Löwen Karriere macht – auch eine Kritik am höfischen Leben.9
Verschiedene Länder haben ihre berühmten Fabeldichter. In Frankreich fasste La Fontaine, ein Zeitgenosse des Sonnenkönigs Ludwigs XIV., antike und andere Fabelstoffe in kunstvolle Ferse. Ihre große Blütezeit im deutschsprachigen Raum erlebte die Fabel im 18. Jahrhundert zur Zeit der Aufklärung, wo sie als Mittel wiederentdeckt wurde, um menschliche Dummheit einzudämmen und Kritik an der Macht- und Gesellschaftsordnung zu üben.10 Lessing gehört zu den Fabel-Klassikern dieser Zeit. In Russland wurde Iwan Krylow im 19. Jh. mit seinen mehr als 200 Fabeln populär.
Seit dem 19. Jh. wurden Fabeln immer mehr als Kinderliteratur verstanden. Auch (Reform)Pädagogen wie Pestalozzi schrieben Fabeln.
Im 20. Jahrhundert schrieb der amerikanische Schriftsteller und Redakteur James Thurber seine tragikkomischen „Fables for our time“.
Erwähnt sei noch „Farm der Tiere“ von George Orwell, ein 1945 erschienener Roman mit Fabelelementen (auch als dystopische Fabel bezeichnet), in dem die Schweine ein totalitäres System auf dem Bauernhof errichten.
Autorin: Natascha Wickerath
(Zuletzt aktualisiert: 18. Januar 2023
Erstmals veröffentlicht: April 2018)
Quellen und Anmerkungen
1) Walburga Freund-Spork: Die Fabel, Bange Verlag, 2003, S. 29
2) Reinhard Dithmar: Die Fabel, 8. Aufl. 1997, Ferdinand Schöning, Paderborn, UTB für Wissenschaft, S. 166
3) Reinhard Dithmar, ebd. S. 168
4) Reinhard Dithmar, ebd. S. 206
5) vgl. Clemens Zerling: Lexikon der Tiersymbolik – Mythologie, Religion, Psychologie, Drachenverlag 2012, z. B. über den Löwen S. 197ff. oder die Eule S.93f
6) Horst Brinkhaus: Das indische Pancatantra als Quelle von Kalila wa-Dimna in: Von listigen Schakalen und törichten Kamelen. Wissenschaftlicher Begleitband zur Sonderausstellung „Tierisch moralisch: Die Welt der Fabel in Orient und Okzident“ 2009, Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg, Hrsg. Marmoun Fansa, Eckhard Grunewald, S. 58ff
7,8) Josef M. Werle: Zur Geschichte der deutschsprachigen Fabel, in „Deutsche Fabeln aus Tausend Jahren“, Goldmann, 1998, S. 354ff.
9) vgl. Reineke Fuchs auf wikipedia.org https://de.wikipedia.org/wiki/Reineke_Fuchs#Die_Fuchs-Epen_des_Mittelalters, Stand: 10.11.2017
10) Josef M. Werle: ebd., S. 364ff.